Erste Äusserungen des Bundesgerichts zu den Übergangsbestimmungen des revidierten VVG
Urteil des Bundesgerichts vom 14. November 2023, 4A_271/2023
Datum: 8. April 2024
Ein aktueller Bundesgerichtsentscheid wirft Licht auf die Frage, ob Versicherte, die nach einer Phase vollständiger Arbeitsunfähigkeit wieder teilweise arbeitsfähig werden, Anspruch auf volle Taggeldleistungen haben. Besonders interessant ist der Entscheid jedoch im Kontext der Übergangsbestimmungen des revidierten Versicherungsvertragsgesetzes (VVG).
Sachverhalt
Der Versicherte (Beschwerdeführer) war seit dem 23. Januar 2019 aufgrund einer Erkrankung vollständig arbeitsunfähig und bezog von der Versicherung (Beschwerdegegnerin) Taggeldleistungen. Ab dem 19. Juni 2020 wurde er als zu 50-70% arbeitsfähig beurteilt. Die Beschwerdegegnerin kürzte daraufhin die Taggeldleistungen des Beschwerdeführers auf 50%. Der Beschwerdeführer klagte dagegen und verlangte die volle Taggeldleistung. Die Vorinstanz erwog gestützt auf eine Gesamtwürdigung der eingereichten medizinischen Akten, dass die Beschwerdegegnerin für den massgebenden Zeitraum zu Recht von einer Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers von 50% ausgegangen sei. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Versicherten ab und bestätigte die vorinstanzliche Entscheidung.
Im Rahmen seiner Erwägungen befasste sich das Bundesgericht unter anderem mit den in Art. 103a VVG enthaltenen Übergangsbestimmungen des am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen, revidierten Versicherungsvertragsgesetzes (VVG). Für Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossen worden sind, finden die Bestimmungen über die Formvorschriften (lit. a) und das Kündigungsrecht nach den Artikeln 35a und 35b VVG (lit. b) rückwirkend Anwendung. Alle anderen Bestimmungen gelten nur für neu abgeschlossene Verträge (E. 3.1; vgl. dazu ferner Botschaft zur Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes vom 28. Juni 2017, BBl 2017 5089 ff., 5136).
Da der dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegende Versicherungsvertrag «vor dem 19. Juni 2020» (recte: vor Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 am 1. Januar 2022) abgeschlossen worden war, galt es den Versicherungsfall ausschliesslich nach den Bestimmungen des VVG in der bis Ende 2021 geltenden Fassung zu beurteilen.
Kommentar
Dem Rechtsstreit lag ein Versicherungsvertrag zugrunde, der vor dem Inkrafttreten der Revision am 1. Januar 2022 abgeschlossen worden war. Der Hinweis im Urteil, der Vertrag sei "vor dem 19. Juni 2020" abgeschlossen worden, kann wohl als Versehen betrachtet werden, nimmt doch das Bundesgericht selber auf das Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2022 Bezug. Der Gesetzgeber hat mit Art. 103a VVG eine intertemporalrechtliche Kollisionsregel geschaffen, welche als lex specialis grundsätzlich Vorrang vor den allgemein geltenden intertemporalen Kollisionsregeln des SchlT ZGB hat (Rhea Specogna, in: Basler Kommentar, Versicherungsvertragsgesetz, 2. Aufl. 2023, N 2 zu Art. 103a VVG). In der Lehre herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, ob Art. 103a VVG eine abschliessende Übergangsregelung für das gesamte VVG darstellt oder nicht.
Die Kontroverse um die Reichweite des Übergangsrechts gemäss Art. 103a VVG ist hauptsächlich in dessen Auslegung begründet. Einerseits wird vertreten, Art. 103a VVG enthalte eine abschliessende Übergangsbestimmung für sämtliche Bestimmungen des VVG, weshalb kein Anlass bestehe, auf die allgemeinen intertemporalen Grundsätze gemäss Art. 1-4 SchlT ZGB zurückzugreifen (Barbara Klett/Jelica Kuzmanovic, Das Übergangsrecht des revidierten VVG mit Fokus auf Vorschriften mit Auswirkungen auf Dritte, in: HAVE 1/2022, S. 26 ff., S. 30). Andererseits soll Art. 103a VVG lediglich für die in der Bestimmung genannten Sachverhalte resp. einzig auf versicherungsvertragsrechtliche Rechtsverhältnisse anwendbar sein, weshalb für alle übrigen Sachverhalte die allgemeinen Grundsätze gemäss Art. 1-4 SchlT ZGB zur Anwendung kämen (Specogna a.a.O., N 11, 13 m.w.H., 24 und 27 zu Art. 103a VVG).
Das Bundesgericht hat sich in seinem Entscheid 4A_271/2023 vom 14. November 2023 (vgl. E. 3.1) soweit ersichtlich erstmals zu Art. 103a des revidierten Versicherungsvertragsgesetzes geäussert und nun dahingehend Klarheit geschaffen, dass die besagte Bestimmung eine abschliessende Regelung des Übergangsrechts im Versicherungsvertragsrecht darstellt. Bezugnehmend auf die Botschaft hat das Bundesgericht e contrario entschieden, dass sämtliche vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossenen Verträge – von den in Art. 103a VVG statuierten Ausnahmen abgesehen – rein altrechtlich abzuhandeln sind. Das Bundesgericht hat damit implizit einen Rückgriff auf die allgemeinen intertemporalen Kollisionsregeln gemäss Art. 1-4 SchlT ZGB abgelehnt.